| Zwangserkrankungen
Der Beginn einer Zwangsstörung liegt in den meisten Fällen bei etwa 20 Jahren. Allerdings erkrankt rund ein Drittel der Betroffenenbereits vor dem 15. Lebensjahr. Insgesamt leiden ca. 2,5 Prozent der Bevölkerung unter Zwangshandlungen und/ oder Zwangsgedanken. Unter einer Zwangshandlung wird ein Verhalten verstanden, das immer wieder - in ritualisierter Form - wiederholt wird. Dabei kann es sich um die unterschiedlichsten Verhaltensweisen handeln, wie sehr häufiges Händewaschen, wiederholtes Kontrollieren oder auch geistige Handlungen, wie ritualisiertes Zählen. Bei Zwangsgedanken handelt es sich um Vorstellungen und Kognitionen, die wiederholt auftreten, meistens längere Zeit andauern und auch von den Betroffenen selbst als sinnlos erlebt werden. Inhaltlich handelt es sich gehäuft um aggressive, sexuelle oder religiöse Themen. Häufig leiden Zwangserkrankte unter einer Mischform, die sowohl Zwangshandlungen wie auch Zwangsgedanken umfasst. Die Übergänge zwischen normalen Alltagsritualen und einer Zwangsstörung sind zunächst fließend. Unser Alltagsleben besteht aus zahlreichen Gewohnheiten, die die Ausführung komplexer Abläufe erleichtern. Problematisch wird es erst dann, wenn ein Unterlassen dieses Verhaltens zu heftiger innerer Unruhe und Ängsten führt und die Ausübung der - diese Unruhe reduzierenden - Zwänge den Alltag massiv behindert. So ist den Betroffenen oft ein normaler Schulbesuch oder ein geregeltes Berufsleben nicht oder nur eingeschränkt möglich. Mitmenschliche Beziehungen sind sehr belastet, Partnerschaften zerbrechen überdurchschnittlich häufig. Von einer auf den ersten Blick ähnlichen Problematik sind Menschen betroffen, die unter einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung leiden. Dabei wird deren Verhalten von Außenstehenden in der Regel als zwanghaft wahrgenommen. Wie Menschen mit anderen Formen von Persönlichkeitsstörungen auch, erleben die Betroffenen ihr eigenes Tun jedoch nicht als störend oder problematisch. So können sie z.B. von der Angemessenheit ihres eigenen Perfektionismus überzeugt sein; es wird als zu ihnen gehörig (ich-synton) wahrgenommen. Zwangserkrankte hingegen sind sich bewusst, dass ihr Verhalten und ihre Gedanken unpassend sind. Gerade dies verursacht zudem häufig sehr belastende Schuld- oder Schamgefühle.
Die Ursachen für Zwangserkrankungen sind nach heutigem Wissensstand vielfältig. Einerseits weisen Familien- und Zwillingsstudien darauf hin, dass eine genetische Komponente eine Rolle spielt. Die Erkrankung tritt familiär gehäuft auf. Das heißt aber nicht, dass dann, wenn eine erbliche Vorbelastung besteht, die Störung auch tatsächlich ausbrechen muss. Weitere Faktoren wie emotionaler Stress - etwa heftige Krisen in der Lebensentwicklung oder auch Traumatisierungen - können auslösend wirken. Da Medikamente, die die Wiederaufnahme des Neurotransmitters Serotonin blockieren, die Zwangsstörung günstig beeinflussen, liegt die Vermutung nahe, dass auch neurophysiologische und biochemische Faktoren mitverursachend wirken.
Diagnostik und Therapie: Wie schon bei den übrigen Störungsbildern beschrieben, so wird auch bei der Diagnostik der Zwangserkrankungen zunächst über eine anamnestische und explorative Befragung und den Einsatz orientierender Testverfahren und Fragebögen ein allgemeines Bild - sowie ggf. zusätzliche begleitende Störungen - ermittelt. In der sich anschließenden störungsspezifischen Diagnostik wird die Symptomatik und ihre Entstehungsgeschichte detailliert erfasst. Zudem ist eine medizinische Abklärung zum Ausschluss somatischer Ursachen notwendig. Die Behandlungsmöglichkeiten von Zwangsstörungen haben sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. So wird heute im Gegensatz zu früheren Einschätzungen in den meisten Fällen eine relativ günstige Prognose angenommen; nur bei 10% der Erkrankungen muss ein chronischer Verlauf befürchtet werden. Neben der Möglichkeit der medikamentösen Behandlung – überwiegend mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern/ SSRI – bietet sich insbesondere die verhaltenstherapeutische Behandlung an. Dabei besteht eine der zentralen Therapiemethoden darin, den Betroffenen mit auslösenden Reizen zu konfrontieren (sog. „in-vivo-„ bzw. „in-sensu-Exposition“) und ihn bei aufkommendem Unbehangen dabei zu unterstützen, die Ausführung der dieses Unbehagen neutralisierenden Zwangshandlungen zu unterlassen („Reaktionsverhinderung“). Nach einiger Zeit verlieren diese Reize an Bedeutung, es tritt eine Gewöhnung („Habituation“) ein. Diese sehr erfolgversprechende Behandlungsmethode setzt natürlich das Einverständnis des Patienten voraus. An dieser Stelle ergibt sich eine besondere Verantwortung des Therapeuten in der Behandlung von minderjährigen Patienten. Der Einbezug der nahen Angehörigen – etwa der Eltern – ist vielfach hilfreich, muss jedoch im Einzelfall entschieden werden. Kognitive Methoden dienen dazu, die Zwangsstörung stabilisierenden Gedankenmuster zu hinterfragen und zu verändern. Neben diesen symptomspezifischen Verfahren kommen je nach persönlicher Situation des Patienten alternative bzw. weitere Behandlungsmöglichkeiten in Betracht, etwa selbstwertstabilisierende kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren oder Unterstützung zur Aktivierung von Freizeit- und Sozialverhalten. Bei schwierigen Verläufen kann auch eine vorübergehende stationäre Behandlung notwendig sein.
Literatur (Auswahl): Wenn Zwänge das Leben einengen. Von Nicolas Hoffmann Pal (2000). Mein Kind hat Tics und Zwänge. Erkennen, verstehen und helfen beim Tourette-Syndrom. Von Angela Scholz, Aribert Rothenberger Vandenhoeck & Ruprecht (Oktober 2000). Zwänge bei Kindern und Jugendlichen. Von Christoph Wewetzer Hogrefe-Verlag (April 2004). Zwänge. Hilfe für ein oft verheimlichtes Leiden. Von Burkhard Ciupka Walter (März 2001). Zwänge überwinden. Ratgeber für Menschen mit Zwangsstörungen und deren Angehörige. Von Wilhelm P. Hornung, Ulrich Terbrack. Urban & Fischer Verlag/ Elsevier GmbH (März 2004). Brainy, das Anti-Zwangs-Training. Ein computergestütztes Übungsprogramm zur Überwindung von Zwangshandlungen und Zwangsgedanken. Von Christoph Wölk, Andreas Seebeck Dustri. Zudem bietet die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen Broschüren an (Postanschrift: Postfach 1545, 49005 Osnabrück). |